Charlotte Seither - Composer

Ästhetik

„Wir müssen die Dinge ausreichend zerstört haben, um sie zu begreifen. Wir müssen sie aber auch sichtbar leimen und ihre Spuren und Narben in Rahmen legen, damit sie Ganzes und Teilheit und beides in einem sind“

(Charlotte Seither) 

 

 

Schatten und Wahrheit

Aufspaltung im kompositorischen Prozess

 

Der dritte Ort

 

Zu Beginn des Arbeitsprozesses stets der ‚innere Raum‘ als erste Vorstellung. Das ist nichts Architektonisches oder Dreidimensionales, sondern eher die Vorstellung, dass ein Ton eine zusätzliche Dimension hat, die über die bekannten Parameter wie Höhe oder Dauer hinausgeht. Man könnte diesen Raum auch als dritten Ort bezeichnen, als emotionalen Raum, der die Tiefe eines Tones (im Sinne einer psychologischen Valenz) bemisst. Gleichwohl scheint dieser ‚innere Raum‘ auch in sich mehrdimensional: Für keinen einzigen Ton ist dieser jemals der Gleiche, auch formt jedes Stück einen ganz eigenen, so nicht mehr wiederholbaren inneren Raum aus. Jene Hülle also, in die dann vor dem leeren weißen Blatt hinein komponiert wird, ist nie schon von vornherein existent. Sie muss erst projektiert, mit aller Kraft angesaugt und aus dem Dunkel gezogen werden. Immer wieder versucht jener Raum, sich dem Zugriff des Komponiert-Werdens zu entziehen. Er will also verborgen bleiben, im Nicht-Komponiert-Werden verharren anstatt ans helle Tageslicht gezogen zu werden. Man muss um ihn werben, ihn immer wieder rufen und anlocken bis er sich zeigt und berühren lässt. Nun wird er fasslich: Im Beschriften des Raumes durch den dann eigentlichen Kompositionsprozess gewinnt er dann zunehmend Gestalt, erhält einen Körper und Namen. Die Ausarbeitung eines Stückes, das Erfinden seiner konkreten musikalischen Textur beginnt also nie, bevor dieser Raum nicht in einem gewissen Maß durchschritten ist. Ein erster Takt wird also erst möglich, wenn dieser Raum einen gewissen Grad an Konkretheit gewonnen hat, wenn einem im Schreiben auf irgendeine Weise klar wird, wie man ihn durchschreiten kann. Wie ein Blinder tastet man sich als Suchender schließlich durch dieses Dunkel hindurch, versucht, aus dem Spärlichen, das sich tasten lässt, Rückschlüsse zu ziehen auf die Beschaffenheit des Raumes im Ganzen, auf die Objekte, die sich in ihm befinden, seine Temperatur, Schwingung, seine Tiefenverhältnisse und Transparenz. Unser logisches Denken hat nur beschränkte Möglichkeiten, Dinge miteinander zu verknüpfen. Unser vorsprachliches Wahrnehmungssystem hingegen ist weitaus komplexer und kann Projektionen herstellen, die unsere Vernunft niemals zu fügen weiß. Es produziert einen Raum, dessen innere Logik stets über sich selbst verfügt, ohne sich je zu erklären. Es erzeugt Beziehungen, deren Unschärfen im Augenblick des Entstehens größtmögliche Verlässlichkeit aufzeigen – jenseits von Ordnen und Zählen. Alles in allem unterliegt dieser dritte Ort einer höchst eigenwilligen Form von Wahrheit. Wahrheit, die sich nicht legitimiert, die nicht herrschen will, nicht nach Gültigkeit fragt oder sich brüstet. Sie stellt keinen Anspruch. Sie ist einfach nur da. Es ist die Wahrheit der Unschärfe, Wahrheit des Schattens.

 

 

Dissoziation im Prozess   

 

Im nun folgenden, zweiten Schritt behaupte ich alsbald das genaue Gegenteil: Komponieren heißt nämlich geradezu kontradiktorisch, Schatten zu entlarven. Wir müssen wissen, woran wir anhaften, um all jenen überkommenden Relikten frei ins Gesicht lachen und uns von ihnen verabschieden zu können. Wir müssen die Dinge zerlegen, um sie in ihrer Autonomie begreifen zu können. Auf diese Weise müssen wir sie Objekte unseres Komponierens also aufspalten und hineinschauen, sie in ihrer historischen Bedingtheit anschauen, damit sie frei werden für einen neuen, anderen Prozess der Kreativität. Komponieren heißt also zuallererst: zerstören. Wir müssen eine tabula rasa schaffen, auf der alte Anhaftungen aufgegeben werden, um einen Boden für neue Sinnzusammenhänge zu eröffnen. Je genauer ich weiß, wohin ich mit meinen Rücken stehe, umso deutlicher erschließt sich vor mir die Richtung, in die ich gehen muss. Material, Syntax und alle unsere Denkformen müssen auf ihre Authentizität überprüft werden, damit wir sie danach wieder (neu) kontextualisieren können. Aufspalten heißt: verstehen. Zerstören, um zu erkennen. Was wir zerteilt haben, legt sich für uns in einer neuen Form des Verstehens dar und führt uns zu weiter führenden Erkenntnissen des Handelns. Komponieren heißt also auch: mit größtmöglicher Wachheit handeln. Heißt: frei zu sein vom bloß tautologischen Benutzen bereits vorhandener Ausdrucksfolien, die sich in ihrem historischen Kontext erschöpfen. Komponieren heißt, ein Material zu wählen, es zu spezifizieren und von anderen Materialien abzutrennen. Im Komponieren wird ein Spezifisches, Genaueres von einem Unspezifischen, Allgemeineren abgetrennt. Wir dürfen uns nicht in Zufälligkeiten ergeben, bloß weil wir zu schwach sind zum Handeln. Je präziser ich meine Setzung von anderen Setzungen abgrenzen kann, umso verlässlicher wird das Produkt. Wir müssen das Seziermesser ansetzen und jeder Ganzheit misstrauen, die sich uns in den Weg stellt. Wir müssen den Schnitt vor das Akzeptieren setzen: handeln statt glauben. Nicht selten setzt sich bei dieser Vorgehensweise schon bald eine mehrgliedrige Prozessspirale in Gang. Das soeben Erreichte, löst – im Moment des Erreichens – die neuerliche Suche nach Aufspaltung des Nächstkleineren aus und zieht sich weiter nach innen. Die neuerliche Zusammensetzung des auf diese Weise erschlossenen Materials bietet gleichwohl eine veränderte Perspektive. Was in kleinste Partikel zerlegt ist, kann im nun anschließenden Akt der Komposition wieder neu zusammen gesetzt werden. Der sichtbar gemachte Riss mag dabei als ein Wasserzeichen zu verstehen sein, das den dissoziativen Prozess verbürgt.

 

 
Produktivität der Unschärfe

 

So die Teile nun also aufgespalten und in einer umfassenden Handlungsspirale nach innen zerlegt worden sind, wird der Akt des Zusammenfügens, das traditionelle Handwerk des componere also, auf neue Weise bedeutsam. Nicht die Wiederherstellung der alten Ganzheit ist hier also gefragt, möglichst gar naht- und narbenlos, sondern die produktive Unschärfe der Dinge, aus deren Mehrdeutigkeit Ganz- und Teilheit sich wechselseitig durchdringen. Die so bereinigten Elemente lassen sich nun also gezielt „unscharf“, „schief“ oder „unvollständig“ zusammen setzen, so dass der Widerspruch zwischen Teil und Ganzheit nicht aufgehoben, sondern sichtbar gemacht wird. Der Grad der Unschärfe, der sich aus dem Material, aber auch aus den Vorgehensweisen selbst ergibt, lässt nun also Rückschlüsse zu auf den Grad der dissoziativen Durchdringung, der nun zur Messlatte der dialektischen Reflexion wird. Wir müssen die Dinge ausreichend zerstört haben, um sie zu begreifen. Wir müssen sie aber auch sichtbar leimen und ihre Spuren und Narben in Rahmen legen, damit sie Ganzes und Teilheit und beides in einem sind.

 

Charlotte Seither

(veröffentlicht  in: Edition Zeitklang, CD Charlotte Seither, Essay on Shadow and Truth. Orchester- und Kammermusik, Booklet, LC 00581, S. 10-12.)

 

 


 

Zeit und Perspektive 

 

[…] Beim Hören [der Musik von Charlotte Seither] kann sich eine veränderbare Wahrnehmung der Zeit einstellen. Überprüft man die klingende Zeit durch Messung, könnten die Methoden der Erfassung in zählbaren Einheiten oder als Menge durchfließenden Wassers oder Sandes nebeneinander stehen. In der Betrachtung erschließen sich unterschiedliche Zeitschichten, die sich zu einem „Zustand des Zeitlichen“ verdichten. Auf dieser Ebene öffnet Charlotte Seither die Perspektive zu einer Röhrengestalt, die den Verlauf der Blickrichtung hinein- oder herausführt. Ist der Kompositionsprozess in Gang gesetzt, werden rhythmische Strukturen möglichst stark differenziert. Die Verwandlung des Parameters Rhythmik über seine Minimierung relativiert gleichzeitig die Bedeutung der Entwicklung von Zeit. Der lineare Verlaufsprozess verfängt sich in einer Zeitglocke: verräumlicht, aber auch in Grenzen. Schließt sich die Versuchsanordnung als Hörvakuum, unterliegen alle musikalischen Impulse einer spezifischen Bewegungsdramaturgie. Durch die Dehnung der Klangzeit wird Spannungsenergie aufgebaut und die Fallgeschwindigkeit der musikalischen Bestandteile bei unterschiedlicher Ausrichtung angeglichen. Das kompositorische Experiment sieht den Ausstieg aus dem realen Zeiterleben vor. Dem Hörer begegnet das Zeitlose als Verlauf ins Un-Hörbare durch Parameterumdeutung: Das Schließen und Öffnen des Zeitzustandes hat für die Komposition formale Auswirkungen. Schließung heißt nicht Geschlossenheit, aus der wiederum Einheitlichkeit erwächst, sondern Relativierung und Verwandlung von Zeit als idiomatische Chiffre der Auflösung von Tempo und Rhythmus.

Noten – Text – Inhalt

 

Der Titel einer Komposition erhält von Charlotte Seither im Gesamttext eine eigene semantische Ebene. Er soll den Beginn der Musik nicht auslösen, sondern den Grundzustand des Stücks in zurückhaltender Poetik beschreiben. Nach dem Hören findet sich der Werkinhalt in seiner Bezeichnung bestätigt. Während des Schaffensprozesses kristallisiert sich der Titel als Name in der Regel erst relativ spät heraus. Er akzentuiert kurz und lässt damit Assoziationen zu, die in der Brechung mit anderen Kommunikationsebenen wieder ausgeschlossen werden können. Es geht dabei weniger um den Assoziationsinhalt als um den Assoziationsraum, der sich hinter ihm aufspannt. Es gibt neben italienischen französische, englische und deutsche Sprachklangräume, in denen Kunstworte existieren, Sprachen amalgamiert oder aber unbezeichnete Inhaltsräume aufgefaltet werden. Die Benennung Kammersinfonie lässt sich beispielsweise in einen musikgeschichtlichen Kontext stellen, erlebt aber auch ihre poetisierende Umdeutung durch die ergänzende Zustandsbeschreibung objet diaphane – durchscheinendes Objekt. Die Beschreibung der musikästhetischen Werkidee wird von Charlotte Seither auf eine sprachliche Chiffre reduziert. Die Komponistin betreibt keine Literaturvertonung. Ihre Musik adaptiert nicht das Produkt eines dichtenden Individuums, sondern „spuckt dessen Sprache nach dem Verbrauch durch die Bedürfnisse der Komposition wieder aus“ (Charlotte Seither). Bleibt der Text bewusst unverständlich, wird eine Abstraktion der Sprachebene erreicht. Der nur mehr klingende Lauf korrespondiert auf gleicher Ebene mit der Musik. Der Denkraum des Wortes wird zugunsten des musikalischen Denkens auf eine andere Bedeutungsebene verschoben. Charlotte Seither verwendet neben der Sprach-/Klangschicht zusätzlich noch die Textsorte der Aufführungsanweisungen bzw. Ausdrucksbezeichnungen. Aufführungsanweisungen richten sich normalerweise linear auf die Realisierung der Werkgestalt. Bei ihren Stücken bedarf es aber zuerst der Imagination des Klangraums durch den Interpreten. Erst dann treffen sich Sprachbilder in Flächen und Klangprozesse in ihrer Räumlichkeit. Wird das musikalische Geschehen schließlich zur Eindimensionalität der Spielanweisung rückgekoppelt, stabilisiert es sich nur in der umgekehrten zeitlichen Konsequenz.

Form als Strukturprozess

 

Zeitstruktur und Textualität stellen bei Charlotte Seither neben anderen verwandelten Parametern wie Klangfarbe, Dynamik und Gattungstradition die wesentlichen Komponenten der Gesamtform dar. Eine Form als Gebilde kann nicht aus additiven, rekurrierenden oder entwickelnden Abschnitten wie Satz, Reprise oder Durchführung bestehen – sie ist immer als Stück ganz vorhanden. Durch die Umwertung der Zeit in eine Zeitformung geschieht die Betrachtung der Formelemente und ihrer Zustände introspektiv. In einem analytisch reflektierten Verfahren werden in der formalen und motivischen Entblätterung und Aufspaltung paradoxe Steigerungen erzielt. Elementare Bausteine werden hörbar gemacht und rufen die Suche nach dem als Kern nicht mehr Teilbaren aus. Der Hörblick wird unter dem Mikroskop der Komponistin aber auch dialektisch vergrößert. In der experimentellen Kommunikation erhalten ihre signifikanten Anteile unter Zurücknahme von Tempo, Lautstärke und Inhalt die Chance, sich zu dynamisieren, zu permutieren, zu transformieren oder zu substituieren. Im Idealfall schöpfen die Kompositionskomponenten im Verlauf des Stücks aus sich selbst. Die Notwendigkeit der Schließung des musikalischen Ablaufprozesses wird in der Öffnung der Form überwunden.

Nicht zuletzt um dieses Ziel zu erreichen, dekonstruiert Charlotte Seither in deiner stillen Revolution, wenn sie traditionelle Gesetze der Gattung, Textbehandlung und Instrumentation außer Kraft setzt. Es wird nicht zertrümmert, aber dennoch ein fraktales Geschehen gestaltet. Anstelle von Dekonstruktion steht Umwertung, Auslassung oder Ersetzung als Schnittstelle im dualistischen Verfahren: Die musikalische Substanz muss sich gerade in der Möglichkeit ihrer Brechung konstituieren. Die Anforderungen an die Materialeigenschaften sind vielfältig und ihre Einsatz für die kompositorische Nutzung essenziell. Nur was der idiomatischen Sicht standhält, kann Klangdauer und musikalischen Zusammenhang schaffen. Hinsichtlich des kompositorischen Ergebnisses bleibt der direkte Bezug zu musikhistorischen Vorgaben und biografischen Vorgaben ausgespart. Die Komponistin stellt der Klangvorstellung von Hörern und Spielern Rätsel, die nicht über die Notation der Komposition entschlüsselt, sondern unter primärem Einsatz des eigenen Imaginationsraums gelöst werden müssen. Die Interpreten setzen nicht um, sondern setzen ihren Ansatz in die chiffrierten Strukturen der Komposition ein. Dabei kann sich ein virtueller Dialog mit dem Auditorium anschließen, das seinerseits Rätsel im Bereich der Instrumentation (ungewöhnliche Instrumente wie Subkontrabassblockflöte, Akkordeon, Geräuschinstrumente) konfrontiert wird. Charlotte Seither fährt im künstlerischen Prozess ein hohes Risiko. Die Geheimnisstruktur ihrer Musik lässt den Hörenden zwar forschen, die Werkgestalt aber nie wie unter einem Schleier erkennen. Das Sichtbare der Komposition bedarf umgekehrt des Hörens und einer weitestmöglichen Öffnung der Wahrnehmung. In die Werkrezeption kann die Erfahrung musikalischer Geschichtlichkeit integriert werden, wesentlich bleibt die authentische und gegenwärtige Individualität der Komponistin. Zwischen Komposition und Aufführung changieren die Chiffren des Anderen auf dem Selbst.

 

Laura Bettag

(in: WERGO / Edition zeitgenössische Musik, Deutscher Musikrat, Portrait-CD Charlotte Seither, LC 6548 2, Booklet, S. 11-15).